Die Nacht von Dienstag auf Mittwoch dürfte kommende Woche kurz werden in Berlin, insbesondere im Willy-Brandt-Haus an der Wilhelmstraße. Bis Mitternacht können die rund 360.000 SPD-Mitglieder darüber abstimmen, ob sie den von der Parteispitze verhandelten Koalitionsvertrag mit der Union unterstützen oder nicht. “Das ist gelebte Mitbestimmung — direkt, verbindlich und stark”, loben sich die Genossen auf ihrer Parteiseite selbst. Zur gelebten Mitbestimmung gehört derzeit auch, dass sich die Führungsriege um Lars Klingbeil und Saskia Esken allerhand Kritik von der Parteibasis anhören darf. Und das, obwohl viele SPD-Funktionäre selbst vom eigenen Verhandlungserfolg überrascht waren, während in der Union das große Zähneknirschen herrscht. Trotz des Debakels bei der Bundestagswahl, bei der die SPD das schlechteste Ergebnis ihrer Nachkriegsgeschichte einfuhr, soll sie laut Koalitionsvertrag sieben Ministerien erhalten — statt der im Vorfeld erwarteten fünf oder sechs. Nicht ganz überraschend lehnen die Jusos den Koalitionsvertrag trotzdem ab und sprechen gar von einer “tickenden Zeitbombe”. Bei Themen wie Asyl, Migration, Arbeit und Soziales gehe das Vertragswerk “den falschen Weg”, so Juso-Chef Philipp Türmer im RTL/ntv-Interview. Klingbeil, der Favorit für das Amt des Finanzministers in der künftigen Regierung, fand diese Woche unter anderem den Weg zu einem Bürgerdialog in Trier und besuchte das Mercedes-Benz-Werk in Sindelfingen. Offenbar ein Versuch, Bodenständigkeit und Wirtschaftsnähe gleichzeitig zu vermitteln. (v. l. n. r.) Markus Söder (CSU), Friedrich Merz (CDU), Lars Klingbeil (SPD) und Saskia Esken (SPD) informieren die Medien nach der Einigung auf eine Koalitionsvereinbarung in Berlin am 9. April 2025. Foto: Liesa Johannssen/Bloomberg Während Klingbeil nach dem verheerenden Wahlergebnis der SPD thematisch die Flucht nach vorne antritt und angesichts steigender Popularität der AfD auf Pragmatismus setzt, steht Co-Parteichefin Esken seit Wochen in der Kritik. Sascha Binder, immerhin Generalsekretär in Eskens eigenem Landesverband Baden-Württemberg, sprach sich diese Woche im Südkurier sogar offen gegen ein Ministeramt für die gebürtige Stuttgarterin aus. Während die Sozialdemokraten sich vor dem Mitgliederentscheid noch fleißig mit sich selbst befassen und über Minister-, Fraktions- und andere Parteiämter streiten, wird auf internationaler Bühne die Weltkarte neu verhandelt. US-Präsident Donald Trump sorgt seit seinem sogenannten “Liberation Day” mit Kommentaren zu Strafzöllen, Zinspolitik und der Ukraine zuverlässig für Verwirrung. Aufgrund des anstehenden Regierungswechsels ist Deutschland zwar bei den diversen Gipfeln und Krisentreffen vertreten, braucht aber eine handlungsfähige Regierung mit klarem Mandat, um inhaltlich mitzugestalten. Nicht zuletzt deshalb will Kanzler-in-spe Friedrich Merz in Berlin Tempo machen. Weil seine neue Regierung wichtige Entscheidungen noch vor der Sommerpause fällen soll, will Merz laut Bild-Zeitung die Parlamentsferien verkürzen. Von einem “arbeitsintensiven Sommer” ist die Rede. Das setzt jedoch voraus, dass es am Mittwochmorgen kein Katerfrühstück im Willy-Brandt-Haus gibt und die SPD-Mitglieder dem Koalitionsvertrag zustimmen. Lesen Sie auch eine Auswahl unserer Artikel dieser Woche: Entlastung für die Autoindustrie?, neue Möglichkeiten, schwindende Krypto-Angst, Abnehmpillen ruinieren Geschäft und KfW lockt mit mehr Geld. |